Manchester

Über dem Rollfeld in Frankfurt wurde Luft in dicken, beinahe sichtbaren Schwaden von den Maschinen hin- und hergeworfen und durchgeknetet mit größter, alles immer weiter aufheizender Brutalität. Im Flugzeug erst verwandelte sich meine Schläfrigkeit, von der Hitze befreit, in einen fröstelnden Dämmerzustand, in dem ich ein kühles und grau überzogenes Manchester erreichte, den Flughafenbahnhof fand und dann, in der Stadt, das Hotel, wie jedesmal begeistert von der frischen Fremdheit Englands und seiner schwarz-pastellfarbenfreien Werbe- und Beschriftungsästhetik.

Wie mir geheißen worden war, zog ich ins Palace Hotel, ein weitläufiges ehemaliges Kontorhaus, in dem man leicht, hinter einer der doppelten Schwingtüren, auf die kein Wegweiser zeigte, in Gänge und schimmernde Treppenhäuser geriet, die seit Jahrzehnten kaum benutzt wurden und mit knarrenden Dielen unter staubigen Läufern darauf warteten, daß ein Umbau sie zurückrücke ins Zentrum des Verkehrs. Das Palace war unergründlich altmodisch selbst in seiner modernisierten obersten Zeitschicht: Eingelassen in die kleinen Schreibtische waren Ports für die Modems einer Sorte tragbarer Computer, die es längst nicht mehr gab, und die Gänge waren zu lang und die Treppenschluchten zu zerklüftet, um Wifi in alle Winkel zu funken. Keramik in beige, dunklem ocker und braun verkleidete die Flure und Hallen, und ungeheure, sich überall im riesigen Hause gleichende Mengen einer massengefertigten steinernen Knochenornamentik. Holz verkleidete die Wände meines Zimmers, und es gab darin die Statuette einer jungen Dame, zwei messingne Lampen und Bilder mit Szenen aus dem Empire: Die Arabische Wüste, ein Kamel. Der Raum war zu groß für ein Hotelzimmer, zu hoch und zu breit, und das Licht reichte nicht bis zur Decke. Niedergetretener Teppich schlich unter dem Türspalt nach draußen, um die Böden der anderen Zimmer, der Stiegen und Hallen zu verbinden mit einer durchlaufenden Ornamentik, große Flure zu dämpfen und alles mit allem zu verbinden zu einer einzigen stumpfen Fläche. Licht aus hohen Mosaikfenstern puderte die Treppenhäuser, die benutzten und die stillen. Vor der Tür meines Raums, im Halbdunkel eines Bogendurchgangs, ruhte ein Schlauch auf einem tausendmal lackierten roten Gestell, und durch ein verborgenes, offenes Fenster hörte ich das graublaue Taubengeräusch von leichtem Regen. Das Palace Hotel befand sich genau an der Grenze zwischen Komfort und Verfall: Es blieb mühsam ein Hotel, gerade so, aufgrund langer, andauernder, aber kaum noch aufrecht zu erhaltender Anstrengung.

Geduscht und in einem frischen blauen Hemd legte ich mich, in der Mitte des großen Hotelbetts, auf den Rücken und betrachtete die Decke des turmhohen Zimmers. Gazevorhänge verstreuten das Grau des Nachmittags nur noch glatter über mir. Die Reflexionen auf den dunklen Holzflächen waren kaum mehr als Lichtschlieren; ich konnte leise, sehr leise, die Straße hören. Mit geschlossenen Augen versuchte ich, die Luftsäule über mir zu spüren, den Raum über dem Raum, in dem ich mich bewegen konnte; aber alles, was ich zuwege brachte, war ein nicht zu verortendes fernes Klappern von Schreibmaschinen. Als ich mich wieder rührte, bemerkte ich auch, daß es nicht die Straße gewesen war, die ich gehört hatte, sondern das Rauschen meines eigenen Innenlebens, abgehorcht am rechten Oberarm. Ich vermisste jetzt die beiläufige Gesellschaft der Baronesse: hätte sie den Ort nicht interessant gefunden, etwa keine Freude an diesem meinem Kamel-in-der-Wüste an der Wand gehabt? Ich griff zum Smartphone, knipste den Bildschirm an und wieder aus. Sinnlos: kein Netz. Keine Chance, Facebook aufzurufen aus dem üblichen Grund: Um mich der Präsenz von Menschen überhaupt zu versichern, meist ohne zu ertragen, was konkret durch ihre Köpfe an die Oberfläche gespült wurde. Ich bemerkte, daß ich in diesem Haus unerreichbar war für den Großen Lall und fand das beinahe aufregend. Zeit, eine Flasche Wasser und Kekse zu beschaffen. Schade, dachte ich, daß ich Englisch spreche, noch schöner wäre es, allein in zum Beispiel China zu sein, wo ich niemanden verstünde und im 7-Eleven nur die Flasche hochhalten könnte, um zu signalisieren, daß ich sie kaufen wollte. Ich stellte mir Manchester im Jahr 1990 vor. Ich stellte mir Manchester im Jahr 1903 vor. Ich machte mir Sorgen um das Kamel an der Wand und die Frauen-Statuette auf dem Sideboard und um die dunklen Wandpaneele; sie hatten keine Gnade zu erwarten, wenn auch hier das Renovieren begänne. Wie genau es meine Aufgabe geworden war, mich um ein imperiales Kamel zu sorgen, verstand ich nicht. Wie hingen die arabische Wüste und das Kamel mit dem Leben zusammen, das ich neuerdings führte? Freilich waren die Umstände meiner Reise sonderbar, aber wäre mir das Kamel nicht genauso fremd und wunderbar und bedroht erschienen, wenn ich nur einen Verwandten besucht hätte in Manchester, statt in Sorge um meinen mir jetzt zunehmend unseriös erscheinenden Lebensunterhalt einen alten Agenten zu treffen? Ich hatte Hunger, wie immer, wenn ich allein reiste. Ich würde mir Kekse kaufen und mich mit Keksen und Wasser in das Reise-Zucker-Hunger-Kekshoch hineinessen, krümelschnippend, und dann würde ich durch die mir unbekannte Stadt spazieren im Eilschritt, bis es vollends dunkel würde, und sicherlich würde sich mir das nordenglische Kamelgeheimnis enthüllen: Ich würde Lust bekommen, die Wüste zu sehen, zu reisen vom Zentrum in die Peripherie des Imperiums, den beruhigenden Durchherrschtheitsgradienten zu spüren, und das Wesen der Wüste mir einzuverleiben, Ansichten der Wüste aufzunehmen, ihre besten Eigenschaften meinen schlechten beizugesellen.